Verfassung des Pluralismus

Peter Häberle, Die Verfassung des Pluralismus – Studien zur Verfas­sungs­­theorie der offenen Gesellschaft (Gastvortrag, gehalten am 12. Januar 1978 im Freiburger Konrad Hesse-Seminar), Königstein: Fischer Taschenbuch, 1980, pp. 45-105 (first printing in: Verfassung als öffentlicher Prozess, Berlin 1978, pp. 121 ss.).

Häberle Verfassung des Pluralismus

Introduction/Historical Situation and Systematic Context

Peter Häberle’s best-known discoveries are the identification of jurisprudence as a cultural science, the comparison of different legal or constitutional orders as the fifth moment in interpretation of the law, and last but not least as an inventor of many nowadays current concepts in public law. His legal thought stands in the tradition of Hermann Heller and Rudolf Smend, generally speaking. This mental disposition is evident, when he deals with the concept of the constitution under the impression of pluralistic world-views and ideas of life.

In the first place, the constitution is identified as undergoing a process of pluralisation in function of the interpretation by the many actors and due to its public dimension: ”Eine derartige Sicht der Verfassungsinterpretation ist nicht Ergebnis theoretischer Willkür und persönlicher Beliebigkeit; sie ist vielmehr ‘angeregt’ durch die bisherige Praxis der Verfassungsinterpretation zum Grundgesetz, insbesondere auf erkennbar öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogene Begriffe […]. Verfassungsinterpretation bedarf theoretisch der Erweiterung und Vertiefung um die Dimension des Öffentlichen, weil ihr Gegenstand die Verfassung der res publica ist und weil die an ihren Vorgängen personal Beteiligten öffentliche Kräfte und ‘Faktoren’ sind”.

Content, Abstracts/Conclusions, Insights, Evidence

Peter Häberle takes as a starting point for his discussion the fact that the public sphere is essentially included in every constitution. “Öffentlichkeit ist vielfältig strukturiert und insbesondere den Steuerunsinhalten und -vorgängen der Verfassung unterworfen. Sie ist intrakonstitutionell auch dort, wo sie normative Kraft entfaltet. Diese Öffentlichkeit ist – als vom Grundgesetz geprägte – komplex”. To interpret and apply the constitution is a task addressed to many actors and factors within constitutional practice, not only subjected to the authoritative explanation by a high court. “Ein Verständnis der Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess hat Grenzen und birgt Gefahren. Sie liegen in der denkbaren zu starken Dynamisierung des sogenannten ‘geschriebenen’ Verfassungsrechts – das freilich weit mehr ungeschrieben ist als gemeinhin gesehen wird, insofern Verfassungsauslegung prinzipiell im Spannungsfeld von (verfassungsrechtlichem) Grundsatz und (‘unterverfassungsrechtlicher’) Norm geschieht”. Relatively abstract principles (as found within the constitution regularly), and relatively concrete normative dispositions (to be found within the entire legal order) indicate to the tension in the way of application or concretisation of constitutional law, generally speaking. In any case, interpretation of principle demands in a high degree for creative, inventive and prospective understanding in the hermeneutical sense, including critical judgment.

As a premise for the proposed model of constitutional interpretation, Peter Häberle refers to the concept of “open society” as elaborated by Karl Raimund Popper. ”Prämisse ist das Pluralismusmodell, Pluralismus verstanden als Vielfalt von Ideen und Interessen im politischen Gemeinwesen, von Ideen als Interessen beziehungsweise umgekehrt, – gesehen im Hier und Jetzt”. The constitutional regulation is not only based upon the open society but enables one to organise it by use of constitutional principles.

The constitution of an open society in both senses of legal and physiological or phenomenological constitution signifies essentially a dynamic process. “Diese Konzeption setzt die ständige Weiterentwicklung des Pluralismus als Verfassungstheorie und Verfassungspraxis voraus. […] Der Verfassungsstaat ist nicht schon deshalb an sein Ende gekommen, weil die klassischen Theorien in vielem nicht mehr ausreichen. Allein die ‘rechtsstaatliche Verfassung’ im Zentrum der Verfassung, alles andere ausserhalb, unter oder gar gegen sie sich abspielen zu lassen, spricht nicht gegen die Verfassungsidee, sondern gegen die Phantasie ihrer heutigen Interpreten, theoretiker und Politiker. Ein reformpluralistischer Ansatz könnte hier weiterhelfen. / Ich komme zum Schluss: Pluralismus ist ein Stück ‘Idealität’, ist nie voll erreichte Wirklichkeit, aber auch Chance und darum ständige Aufgabe, wie die Verfassung selbst Norm und Aufgabe ist (Ulrich Scheuner). Diese Einsicht sollte zu unserem Grundlagenkonsens gehören”.

Selected Works of the Same Author

Peter Häberle: Öffentliches Interesse als juristisches Problem – Eine Analyse von Gesetzgebung und Rechtsprechung, Bad Homburg: Athenäum, 1970; Idem: Euro­päische Rechtskultur – Versuch einer Annäherung in zwölf Schritten, Baden-Baden: Nomos, 1994; Idem: Europäische Verfas­sungslehre in Einzelstudien, Baden-Baden: Nomos, 1999; Idem: Gemein­europäisches Ver­fassungsrecht, in: Der europäische Verfas­sungs­raum, ed. Roland Bieber and Pierre Widmer (Publications de l’Institut de droit com­paré, vol. 28), Zürich: Schulthess Polygraphischer Verlag, 1995, pp. 361 ss.; Idem: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (Schriften zum Öffent­lichen Recht), Berlin: Duncker & Humblot, 1982; Idem: Das Men­schenbild im Verfassungsstaat (Schriften zum Öffentlichen Recht, vol. 540), Berlin: Duncker & Humblot, 1988; Idem: Textstufen als Ent­wicklungswege des Verfassungsstaates – Arbeitsthesen zur Verfassungs­lehre als juristischer Text- und Kulturwissenschaft, in: des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung, Festschrift für Karl Josef Partsch zum 75. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot, 1989; Idem: Ausstrahlungs­wir­kungen des deutschen Grundgesetzes auf die Schweiz – Ein Beispiel für weltweite Prozesse der Produktion und Rezeption „in Sachen Verfas­sungs­staat“, in: Das Grundgesetz im internationalen Wir­kungs­zusammen­hang der Verfassungen – 40 Jahre Grundgesetz, Berlin: Duncker & Humblot, 1990, pp. 1 ss.; Idem: Ethik „im“ Verfassungsrecht, in: Rechtstheorie, Zeitschrift für Logik, Methodologie, Kybernetik und Soziologie des Rechts, vol. 21 (1990), pp. 269 ss., Berlin: Duncker & Humblot, 1990; Idem (Ed. together with Michael Kilian and Heinrich Wolff): Staatsrechtslehrer des 20. Jahr­hunderts – Deutschland, Österreich, Schweiz, Berlin: Walter De Gruyter, 2015.

For Further Reading

Peter Häberle: Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Absatz 2 Grundgesetz – Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, Heidelberg: C. F. Müller, 1962 (3rd ed. 1983); Idem: Öffentliches Interesse als juristisches Problem, Bad Homburg: Athenäum Verlag, 1970 (2nd ed. 2006); Idem: Grundrechte im Leistungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, vol. 30 (1972), pp. 43 ss.