Versuch einer Kultur­philosophie

Ludwig Stein, An der Wende des Jahrhunderts – Versuch einer Kultur­philosophie, Tübingen: J. C. B. Mohr 1899, pp. 202-230 (“Die menschliche Gesellschaft als philosophisches Problem”) and pp. 47-77 (“Das Prinzip der Entwickelung in der Geistesgeschichte”).

Stein Gesellschaft

Introduction/Historical Situation and Systematic Context

Already in his writing about “Wesen und Aufgabe der Sociologie” from 1898 (see no. 0.12 of this Legal Anthology), Ludwig Stein has decidedly pointed out his conception of sociology as social philosophy, and therefore includes legal philosophy as well. In his project to establish cultural philosophy as a scientific discipline he addresses “human society as a matter of philosophy”, in a chapter of his collection volume entitled “At the Turning Point of the Century”.

Content, Abstracts

The dynamic approach in sociology is even accentuated by the general idea of a cycle or spiral in the domain of the history of human thought. Although this conception is commonly associated with Hegelianism, Ludwig Stein identifies pre-conceptions of such an ideal already in Antiquity and in the Middle Ages, as he proves in the chapter on “The Principle of Development in History of Human Thought”.

In his conception of cultural philosophy of cycles of human thought, Ludwig Stein establishes the link to Hegelian dialectics: “Wollte man Georg Wilhelm Friedrich Hegel trauen, so würde sich der ganze Weltprozess, die Selbstentfaltung des Weltgeistes (Logos) nach dem triadischen Rhythmus, dem Dreiviertelstakt von An-Sich, Für-Sich und An-und-Für-Sich, einen in sich geschlossenen Kreis der Selbstbewegung des Gedankens darstellen”. Already this sentence, however, indicates that there are some reserves to be made. “Das Problem der menschlichen Gesellschaft liefert uns, geschichtlich angesehen, einen willkommenen Beleg dafür, dass Ideenbewegungen nicht kreisförmig, sondern spiralförmig verlaufen”. Dynamic progress shall lead from the periphery of a circle to its centre, instead to remain on the circumcircle. This proposition poses the problem of how the categories of social progress should be defined, as there are significant differences in systematic-theoretical philosophy on this point.

Conclusions, Insights, Evidence

Ludwig Stein tends to identify these categories as individualism vs. universalism, respectively, individualism vs. collectivism. However, this conception of individualism has to be secured from anarchy and egoism. As a remedy to the exaggerations of individualism, principles have to be evoked about how to build a human community and how to found social coherence within a collective group. “Das Problem der menschlichen Gesellschaft ist in ein akutes Stadium getreten. Es pocht an jede Thüre und weckt auch den verschlafensten speculativen Träumer aus seinen Phantasien. Man harrt ungeduldig um Antwort. Die Philosophie darf nicht zaudern, will sie nicht Gefahr laufen, in Zukunft überhaupt nicht mehr gefragt zu warden. Und so bildet sie sich an der Wende unseres Jahrhunderts offensichtlich um. Die sozialen Probleme rücken in den Vordergrund. Der Mensch ist endlich wieder nach zwei Jahrtausenden bei sich selbst angelangt, zur philosophischen Erforschung, Beleuchtung und streng wissenschaftlichen – nicht religiösen, auch nicht bloss ethischen –, das heist mathematisch genauen Formulierung seiner Beziehungen zur sozialen Umwelt, zu seinem Mitmenschen zurückgekehrt. Wir erleben augenblicklich eine Renaissance des Anthropozentrismus. Nur steht der heutigen Philosophie der Mensch nicht mehr, wie der früheren anthropozentrischen Weltanschauung, im Mittelpunkt des Universums, sondern nur im Mittelpunkt des philosophischen Interesses. Nicht die Welt, sondern die menschliche Gesellschaft wird, wenn nicht alle Anzeichen trügen, das zentrale Problem der philosophischen ‘Moderne’, der ‘Jungen’. Das Zwanzigste Jahrhundert wird unter den Auspizien einer in vollständiger Umwälzung begriffenen Philosophie einsetzen. Für das heranwachsende Denkergeschlecht ist der Schwerpunkt des dialektischen Fürwitzes verschoben; er heisst nicht mehr Welt, sondern Mensch. Wir stehen mit einem Worte unter dem Zeichen der werdenden Sozialphilosophie”.

Selected Works of the Same Author

Ludwig Stein: Die sociale Frage im Lichte der Philosophie – Vorlesungen über Socialphilosophie und ihre Geschichte, Stuttgart: Ferdinand Enke, 1897; Idem: Wesen und Aufgabe der Sociologie – Eine Kritik der organischen Methode in der Sociologie, in: Archiv für systematische Philosophie, vol. 4, Berlin: Georg Reimer, 1898, 38 pp.; Idem: An der Wende des Jahrhun­derts – Versuch einer Kultur­philosophie, Tübingen: J. C. B. Mohr 1899; Idem: Der soziale Optimismus, Jena: Hermann Costenoble, 1905; Idem: Die Anfänge der menschlichen Kultur – Eine Ein­führung in die Soziologie, Leipzig: B. G. Teubner, 1906; Idem: Philoso­phische Strömungen der Gegen­wart, Stutt­gart: Ferdinand Enke, 1908; Idem: Dualis­mus oder Monis­mus? – Eine Unter­suchung über die doppelte Wahrheit, Berlin: Reichl, 1909; Idem: Die Juden in der neueren Philo­sophie, Berlin, M. Poppelauer: 1919; Idem: Ein­führung in die Sozio­logie, München: Rösl, 1921; Idem (Ed.): Archiv für die Geschichte der Philo­sophie; Idem (Ed.): Archiv für systematische Philo­sophie und Sozio­logie.

For Further Reading

Markus Zürcher: Unterbrochene Tradition – Die Anfänge der Soziologie in der
Schweiz, Zürich: Chronos-Verlag, 1995.